Geborgen in einem hervorragenden Fachkräfteteam wurden unsere Erfahrungen aber dann immer konstruktiver und befriedigender. Für mich war es damals durchaus selbstverständlich, für ein besseres Verständnis der Herkunftskulturen gemeinsam mit deutschen und türkischen Jugendlichen eine dreiwöchige abenteuerliche Studienreise in die Türkei zu realisieren (siehe Bild). Mit diesen Erfahrungen konnte ich dann in den neunziger Jahren den Aufbau der Stadtteilarbeit im Hammer Norden verantwortlich mitgestalten. Dessen Sozialstruktur war wiederum extrem multikulturell, und die Arbeit ließ mich wiederum viele ausgesprochen positive Erfahrungen in der Begegnung mit zugewanderten Menschen machen. Auch die Rolle als Ansprechpartner der Stadt Hamm für die Gruppe der Hammer Sinti gehörte zu den Arbeitsbereichen, auf die ich heute mit großer Dankbarkeit wegen der vielen mitmenschlichen Begegnungen zurückbli-cke. Ich habe die Arbeit mit Menschen unterschiedlichster Herkunft immer als Bereicherung angesehen. Wobei ich betonen muss, dass die Arbeit durchaus immer wieder konfliktreich war und ich gelernt habe, eine sozial-romantische rosa Brille, die ich zunächst durchaus auf hatte, irgendwann abzusetzen und die Arbeit mit Realismus und Pragmatismus zu betreiben. Ich bitte die folgenden Thesen als Teil meines persönlichen Reflexionsprozesses und als Anregung zur Diskussion zu verstehen.
Interkulturelle Kompetenz in der Arbeit mit zugewanderten Eltern
Interkulturalität - Diversität - Vielfalt: Fachliche Überlegungen

Diese Überlegungen habe ich in der krisenhaften Situation in der Zuwanderung nach 2015 begonnen. Sie bieten eine persönlich gefärbte Einschätzung zu Chancen und Herausforderungen der Arbeit mit Flüchtlingen und zugewanderten Menschen. Ich habe mich eigentlich nie explizit als Experte für „Interkulturalität“ verstanden. Doch als die Herausforderungen dann existierten und ich sowohl in der eigenen Beratungstätigkeit mit zugewanderten Menschen als auch bei Unterstützung der betreuenden und bildenden Systeme gefordert war und unterstützen wollte und musste, und als dann immer wieder auch Anfragen für fachliche Impulse zu Interkulturalität in der Zusammenarbeit mit Eltern an mich herangetragen wurde, wurde mir im Rückblick auf meine eigene berufliche Biografie klar, dass eine interkulturelle Ausrichtung immer ein elementarer Bestandteil meiner Werthaltung und meine Selbstverständnisses war. Meine ersten Berufsjahre im Jugendzentrum in Hamm-Pelkum waren geprägt durch die Herausforderungen in der Arbeit mit türkischen und marrokanischen Jugendlichen und ihre Eltern (wobei wir die größten Probleme mit deutschstämmigen gewaltbereiten und gewalttätigen Jugendliche hatten), die mich zunächst total an meine Grenzen brachten, aber auch wichtige und nachhaltige Lernerfahrungen anstließen. Sozialisiert in einer westfälischen Kleinstadt und der katholischen Jugendarbeit war ich mit einer naiven Offenheit auf die Jugendlichen zugegangen mit der Einladung ins Jugendzentrum: „Herzlich willkommen, ihr könnt ihr machen was ihr wollt!" Und dann machten sie was sie wollten. Wenige Jahre später beobachtete ich mich selbst im Eingang stehend: „Herzlich willkommen. Bevor ihr ins Jugendzentrum kommt, erkläre euch euch zunächst die Regeln, die herrschen, und was passiert, wenn ihr sie nicht einhaltet!“
- Eine recht verstandene und praktizierte systemische, ressourcenorientierte professionelle Haltung von Fachkräften, die gekennzeichnet ist durch Neugierde und gleichzeitig Respekt vor der Lebenswirklichkeit aller Menschen, vor allem den Menschen gegenüber, mit denen man beruflich zu tun hat, hat nach meiner Auf-fassung „universalen“ Charakter. Wenn ich jeden Menschen als Individuum sehe und die Vorstellung aufgebe, dass ich, nur weil jemand im Nachbarhaus, in Ostbe-vern oder Ruhpolding geboren sei, weil er ein Mann oder eine Frau ist, weil er arm oder reich ist, weil er aus Bayern, der Türkei oder Amerika stammt, schon etwas über ihn oder sie weiß, dann macht es im beruflichen (und auch persönlichen) Kontakt kaum einen Unterschied, ob jemand zugewandert ist oder nicht.
- Für mein eigenes interkulturelles Verständnis fand ich die Auseinandersetzung mit den Sinus-Milieustudien sehr hilfreich, weil sie den Blick schärfen für die soziale Lage und die Wertekontexte, in denen Menschen leben. Insbesondere fremde Wertvorstellungen als gleichberechtigt gelten lassen ist die Eintrittskarte in Kommunikation mit „Fremden“. Das bedeutet übrigens nicht, eigene Werte aufzugeben, sondern sie in die Kommunikation einzubringen und gegebenenfalls im institutionellen Kontext auch durchzusetzen. Hier gilt die Differenzierung von Empathie: „Verstehen – Verständnis haben – Einverstanden sein!“, und das kann in jedem Fall anders gelagert sein.
- Andererseits: Es gibt Grenzen des Verstehens und des Kontakts.
- Insbesondere kulturell e Tabus können Fallen in der Kommunikation darstel-len. Über Sitten und Gebräuche, Rollenbilder und Lebenskonzepte kann ich nur bis zu einem bestimmten Punkt offen kommunizieren. Die Vorstellung der kulturellen Offenheit ist wiederum selbst ein „soziokulturelles Milieu“, die bei Gesprächspartnern durchaus Befremden auslösen kann. Insofern gibt es ein profesionelles Wissen über andere Kulturen und die möglichen Fallen in der Kommunikation, und insofern sind Schulungen über Herkunftskulturen und kulturelle Kommunikationsfallen sicher sinnvoll, lösen aber das Problem al-lein nicht.
- Ich habe auch gelernt, dass es Grenzen einer gelingenden Kommunikation gibt. In einer Lehrerfortbildung in einer Berliner Brennpunktschule, die ich gemeinsam mit Weiterbildnerinnen aus der Berliner interkulturellen Szene machen durfte, brannte sich der Begriff der „Grundrechtsklarheit“ ein. Viel-leicht kann ich manchmal eine chauvinistische, sexistische oder rassistische Bemerkung oder Provokation überhören, vor allem wenn sie aus Hilflosigkeit und daraus resultierenden Ärger entstammt. Dann kann es gelingen, durch die Lösung der anstehenden Probleme Menschen zurück in die Schulgemein-schaft oder Kita Gemeinschaft zu holen, unabhängig von deren Vielfalt. Aber je bewusster diese Bemerkungen eingesetzt werden, desto mehr bin ich gefor-dert, durch klare Grenzziehung und institutionelle Reaktionen darauf zu rea-gieren und die Akzeptanz des deutschen Grundgesetzes einzufordern.
- Nur in der Ambivalenz zwischen diesen beiden Polen „Universalität“ und „interkultureller Kompetenz“ in Verbindung mit Werte-Klarheit kann ich gut professionell arbeiten: Einerseits offen und neugierig sein, andererseits wachsam, achtsam und klar.
Arbeit mit Übersetzerinnen und Übersetzern
- Arbeit mit zugewanderten Menschen bedeutet in den allermeisten Fällen Arbeit mit Übersetzenden. Im Unterschied zu einer professionellen Übersetzung z.B. vor Gericht oder in Verwaltungsangelegenheiten stellt die Übersetzung in pädagogischen Kontexten eine besondere Herausforderung dar:
- Gerade in pädagogischen Fragen glauben Übersetzende manchmal Bescheid zu wissen, sie sind oft selbst Eltern. Es besteht das Risiko, dass sie „ihr eigenes Ding“ machen, den Aussagen der Fachkräfte eine eigene Färbung geben, sie verstärken, sie abschwächen, dies oft unbewusst und in der besten Absicht zu helfen - oder sich mit einer der beiden Seiten zu identifizieren.
- Pädagogische Interventionen und beraterische Interventionen (bestimmte Fragen, Ausdruck von Wertschätzung und vieles mehr) sind komplexe Äuße-rungen, die ihre Wirkung im Prozess der Übersetzung leicht verlieren können. Gleichzeitig sind auch Äußerungen der Gesprächspartner keine reinen Faktenäußerungen (man denke an das „Vier-Ohren-Modell von Schulz von Thun).
- Übersetzung verdoppelt die Gesprächszeit. Gleichzeitig gibt sie aber auch in den „Pausen“, in denen übersetzt wird. Zeit, den Prozess zu beobachten, nachzudenken, ist auch eine Form der Entschleunigung.
- Übersetzende sind mit belastenden und komplexen Themen und Situationen konfrontiert, sie brauchen Vor- und Nachbereitung der Gespräche.
- All dies stellt kommunale Netzwerke vor die Herausforderung, Dolmetscher zu suchen, zu schulen und zu begleiten.
Konfrontation mit Flucht und Trauma
- Fachkräfte sind mit Fluchterfahrungen und möglichen Traumatisierungen konfrontiert. Sei es, dass dies offen von geflüchteten Familien geäußert wird, sei es, dass Verhaltensweisen der Kinder oder der Eltern entsprechende Hypothesen aufkommen lassen. Fachkräfte müssen sich intensiv mit der Frage beschäftigen, wie sie mit entsprechenden Situationen professionell umgehen können. Und sie sind auf professionelle (Fach)-Beratung angewiesen, wenn sie an ihre Grenzen stoßen.
Konfrontation mit abweichenden Wertvorstellungen und daraus resultierenden Kindeswohlgefährdungen
- Auch Fragen des Kinderschutzes stellen sich in der Arbeit mit zugewanderten Familien anders und neu. Wir können nicht unsere kulturellen und pädagogischen Wertvorstellungen unhinterfragt voraussetzen und erwarten, dass Eltern sich an „unseren Standards“ orientieren. Wir können aber auch nicht zusehen, wenn Kinder familiäre Gewalt erleiden oder vernachlässigt sind. So wie der Gesetzgeber 2001 mit dem Verbot der Gewalt in der Erziehung durch den Paragrafen 16 SGB VIII den Akteuren des Bildungssystems auferlegt hat, „auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können“, müsste es Teil einer gesellschaftlichen Informations- und Bildungsstrategie sein, zugewanderte Familien über eine moderne gewaltfreie Erziehung aufzuklären. Es gibt dazu Ansätze, jedoch bei weitem nicht ausreichende.
- Die Kommunikation im Kinderschutz steht vor hohen Anforderungen. Es gilt in einer Doppelrolle zu agieren: auf der einen Seite das staatliche Wächteramt wahrnehmen, Eltern über die Rechtslage aufklären, die Konsequenzen aufzuzeigen, wenn sie ihr Verhalten nicht ändern, und gegebenenfalls die nötigen Schritte Richtung Jugendamt und Familiengericht zu gehen. Gleichzeitig ist es der Auftrag des Kinderschutzes nicht, Fehlverhalten der Eltern zu bestrafen, sondern die Gefährdung abzuwenden. Und dazu ist häufig die Einleitung von Hilfen notwendig. Dies setzt die Fähigkeit voraus, Menschen zu etwas zu motivieren, dass sie am Anfang des Prozesses nicht für sinnvoll halten oder sogar ablehnen. Ich habe mich aus diesem Grund übrigens für eine Zusatzausbildung im Bereich der „motivierenden Gesprächsführung“ entschieden, bei mir dieses Konzept noch besser als meine systemische Ausbildung hilft, diese Gespräche gut zu führen. Aber dies ist kein Spezifikum der Arbeit mit Flüchtlingsfamilien. Der Satz „Eine Ohrfeige hat mir doch auch nicht geschadet“ wird von Eltern mit und ohne Zuwanderung und aus allen sozialen Schichten benutzt.
Anforderungen an professionelle Kommunikation
- Mit den genannten Punkten wird die Anforderungslatte an professionelle Kommunikation noch einmal höher gelegt: Sprachprobleme, traumatische oder große Belastungen der Familien, kulturell klaffende Wertvorstellungen, und dies in einem Umfeld, in dem andere Familien oftmals genau beobachten, was wir mit den Flüchtlingsfamilien tun und wie wir es tun. Hier ist das Konzept der Motivierenden Gesprächsführung eine hervorragende Hilfe im Kommunikationsprozess.
- Zugewanderte Familien stehen den Lebenspraktiken und der Vielfalt in der deutschen Gesellschaft und dem deutschen Bildungssystem oftmals völlig verständnislos gegenüber. Wie funktioniert es in der Kita oder Schule, was sollen Eltern tun, wenn es Probleme gibt, was ist der Job der Eltern im Bildungssystem? Solange wir dies den Familien nicht systematisch vermitteln neben Sprach- und Integrationskursen, werden viele Probleme nicht zu lösen sein.
- Aufgrund der Situation der Familien sind wir als Fachkräfte in hohem Maß mit ihrer Situation konfrontiert, die von Ungewißheit, Unsicherheit, Streß und Belastungen, inneren Konflikten, Trennungen, Armut, Arbeitslosigkeit u.v.m. gekennzeichnet sind. Dies löst auf Seiten der Fachkräfte ganz unterschiedliche Muster aus:
- Helfen – Kümmern
- Wegsehen – Ignorieren
- Mitfühlen
- Aktionismus
- In eigenen Mustern angestoßen werden
- Mitleiden, aufgesogen werden
Konsequenzen
- Professionell klar zu bleiben braucht Standing, Teamgeist, Supervision und Weiterbildung.
- Die Familien brauchen – soweit dies möglich ist – ein verlässliches Beziehungsangebot. Das ist wichtiger als „Ergebnisse“.
- Die professionellen Akteure benötigen wiederum Teams und Strukturen, die das mittragen und unterstützen.
- Es braucht ein professionelles Netz von Dolmetschern. Die Ausbildung von Laien stellt eine große Chance auch für die hier schon angekommenen Zuwanderer dar, aber sie müssen ausreichend gut ausgebildet und begleitet werden.
- Die Arbeit braucht Fachberatung.
- Wir benötigen dringend bildungsbezogene Bildungsangebote für die Eltern der Flüchtlingskinder: Wie das Schulsystem funktioniert, wie Eltern ihre Kinder im häuslichen Bereich unterstützen können, und vieles mehr.

